zur Erinnerung

Zeitreise mit exklusiven Fotos und einer DVD

"Chemnitz - Karl-Marx-Stadt und zurück"

- Interview mit den Herausgebern über die demnächst erscheinende Neuausgabe des Bandes

FP 10.11.2018

Mit sechs Auflagen und insgesamt rund 20.000 verkauften Exemplaren zählt der Band "Chemnitz - Karl-Marx-Stadt und zurück" zu den erfolgreichsten Veröffentlichungen des Chemnitzer Verlages. Nach 17 Jahren erscheint das Buch zur Umgestaltung der Innenstadt zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren in einer völlig überarbeiteten Neuauflage - mit neuen, außergewöhnlichen Aufnahmen aus privaten Alben und Archiven, mit authentischen Zeitzeugenberichten und mit einer besonderen Beilage. Mit den Herausgebern Udo Lindner und Claus-D. Härtel hat Michael Müller gesprochen.

1964/1965: Mit der Gestaltung von Arkaden entlang der Läden an der Straße der Nationen sowie den parkähnlichen Innenhöfen zwischen den Wohnblöcken entstand für das Zentrum der Stadt eine typische Gestaltungsidee, die sich später auch im Rosenhof wiederholen sollte. Diese Bauweise folgte der Absicht, aus Karl-Marx-Stadt eine sozialistische Musterstadt zu machen.
Foto: Dieter Jährig

"Freie Presse": Herr Lindner, Ihr 2001 erstmals erschienener Band "Chemnitz - Karl-Marx-Stadt und zurück" genießt heute den Ruf eines sorgfältig recherchierten Standardwerks. Trotzdem haben Sie es nun stark umgearbeitet. Warum das?

Udo Lindner: In erster Linie, weil im Laufe der 17 Jahre seither unheimlich viel neues Material aufgetaucht ist - vor allem dank der Recherchen, Vorträge und Filmproduktionen zur Alltagsgeschichte, mit denen sich Claus-D. Härtel seit langem beschäftigt. Bei dieser glücklichen Fügung war es naheliegend, dass wir das Buch noch einmal völlig neu gedacht und diese hinzugekommenen Zeitdokumente mit den 2001 erstellten Inhalten verknüpft haben.

Worin wird sich das neue Buch vom früheren unterscheiden?

Udo Lindner: Wir haben in erster Linie versucht, das Beste aus der alten Ausgabe mit vielen neuen, exklusiven Bildern und weiteren, ganz authentischen Zeitzeugen-Erinnerungen zu ergänzen. Zudem wird mit dem Sonnenberg nun ein weiterer, zentrumsnaher Stadtteil mitbetrachtet, der ab den 1980er-Jahren in Teilen eine ähnlich tiefgreifende Veränderung erfahren hat wie zuvor die Innenstadt. Auch dort sind ganze Straßenzüge mit zahlreichen stadtbekannten Geschäften abgerissen und durch Neubauten ersetzt worden. Auch die Abschnitte zum Brühl haben wir deutlich erweitert und die Beiträge zur Entwicklung der Innenstadt auf den neuesten Stand gebracht. Vieles von dem, was da in den zurückliegenden Jahren entstanden ist, existierte 2001 ja nur als Computeranimation.

1968: Das Stadtviertel zwischen Straße der Nationen (hinten) und Mühlenstraße (hier im Bild die Gartenstraße) hatte den Krieg weitgehend überstanden und beherbergte zahlreiche Geschäfte, wurde aber Ende der 1960er Jahre abgerissen.
Foto: Helmut Brückner

Eine zusätzliche Besonderheit ist, dass dem Buch eine DVD beiliegt. Was hat es damit auf sich?

Claus-D. Härtel: Das ist der jüngste Film aus meiner Reihe "Spuren suchen - Spuren finden", die ich seit elf Jahren in der alten Harthauer Kirche veranstalte. Sie stößt bei den Chemnitzern auf derart hohen Zuspruch, dass regelmäßig mehr Besucher kommen, als Einlass erhalten können. Der Streifen trägt den Titel "Karl-Marx-Stadt - wie Einkaufen 1960 war". In ihm erzählen unter anderem frühere Kinder von Bewohnern des vom Stadtplan völlig verschwundenen Altstadtviertels zwischen Mühlenstraße, Theaterplatz und Bahnhofstraße, wie sie in ihrer Kindheit und Jugend die Atmosphäre in dieser Gegend erlebt haben. Dazu gibt es viele Bilder aus privaten Fotoalben zu sehen.

Wie haben Sie diese Menschen ausfindig gemacht?

Claus-D. Härtel: Im Laufe der Jahre habe ich für meine Filmprojekte mit fast siebzig Zeitzeugen Interviews geführt - mit früheren Geschäftsinhabern, mit deren Kindern, mit früheren Angestellten, mit alten Chemnitzern, die etwa regelmäßig auf dem Brückenmarkt einkaufen waren oder in der Tanzbar "Libelle" zu Gast. Und immer, wenn die "Freie Presse" über meine Projekte berichtet hat, meldeten sich bei mir neue Zeitzeugen, mit neuen interessanten Dingen - und oftmals auch mit alten Fotos. Die haben sie mir dann freundlicherweise zur Verfügung gestellt und vor der Kamera ihre Geschichten dazu erzählt.

Udo Lindner: Beeindruckend ist, welche intensiven Erinnerungen diese Zeitzeugen an die 1950er- und 1960er-Jahre in Karl-Marx-Stadt haben. Trotz mancher Schwierigkeiten und des Mangels, den es damals bisweilen gab, spricht aus ihren Schilderungen eine große Zufriedenheit. Das Karl-Marx-Stadt von damals, das war ihre Jugend. Und was die Fotos aus Privatbesitz so einzigartig macht, das ist ihre besondere Perspektive. Das sind keine Aufnahmen von professionellen Pressefotografen, sondern von Laien, die ihre Stadt mit einem unverstellten Blick im Bild festgehalten haben. Eben so, wie sie war. Das war seinerzeit sicherlich nicht spektakulär. Dafür ist das heute umso spannender anzusehen - weil es die Motive nicht mehr gibt oder aber deren Umfeld sich stark verändert hat.

1967: Auf dem Bild ist gut zu erkennen, welchen zentralen Standort die Gebäude an der Äußeren Johannisstraße einst hatten. An der Stelle, wo das Ballhaus "Libelle" stand (Ruine Bildmitte), führt heute die Bahnhofstraße Richtung Kulturkaufhaus "Tietz" (links hinten).
Foto: Karl-J. Beuchel Foto: Karl-J. Beuchel

Gibt es Fotos, auf die Sie besonders stolz sind?

Claus-D. Härtel: "Von der Sprengung des Kaufhauses Hochmuth gibt es mehrere, relativ bekannte Aufnahmen. Wir haben nun Fotos von einem früheren Bauarbeiter erhalten, der das Geschehen im Zeitraffer aus einer ganz anderen Perspektive festgehalten hat- aus der obersten Etage seines Wohnheimes über die Kongress-Baustelle hinweg." Was bei den Zuschauern immer wieder starke Reaktionen hervorruft, sind Aufnahmen aus den Geschäften, die es früher in Karl-Marx-Stadt gab. Das waren zumeist inhabergeführte Geschäfte, die unter den Leuten einen Namen hatten - Lederwaren-Heinig, Foto-Fuchs, Dörr's Schnellcafé, um nur einige zu nennen. Wenn ältere Chemnitzer heute Bilder davon sehen, dann weckt das natürlich Erinnerungen. Einmal kam eine Dame mit einer Schachtel voller Spielzeug zu mir - alles von Spielwaren-Poller, einem Geschäft bei ihr um die Ecke.

Udo Lindner: Das ist ein Aspekt, der auch für jüngere Generationen interessant ist: Trotz der starken Zerstörung im Krieg gab es im Zentrum der Stadt bis in die 1960er-Jahre hinein funktionierende Stadtquartiere, die erhalten geblieben waren. Mit Cafés, Kneipen und vielen Geschäften, in denen die Leute gern einkaufen waren. Dass diese Viertel trotzdem verschwinden mussten, weil Karl-Marx-Stadt-Stadt, wie andere Großstädte in der DDR auch, zu einer sozialistischen Musterstadt entwickelt werden sollte, war keine Chemnitzer Idee, sondern eine Vorgabe aus Berlin. Um deren Umsetzung wurde heftig gerungen.


Quelle: FP vom 10.11.2018


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